Das Ende der russischen Weltrevolution

    Vor Warschau zerplatzte 1920 der sowjetische Traum von der Weltrevolution
    Im «Wunder an der Weichsel» vertrieb Polen die Rote Armee aus Zentraleuropa. Mit seiner Expansion nach Osten zuvor hatte der junge Staat allerdings erheblichen Anteil am Ausbruch des Polnisch-Sowjetischen Krieges.

    Der polnisch-sowjetische Krieg wurde zu einer geopolitischen Weichenstellung. Im Bild sowjetische Kriegsgefangene.
    Der polnisch-sowjetische Krieg wurde zu einer geopolitischen Weichenstellung. Im Bild sowjetische Kriegsgefangene.
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    Als der Erste Weltkrieg im Westen Europas 1918 endet, kehrt im Osten keine Ruhe ein. Der Konflikt ging weiter, wie der Historiker Wlodzimierz Borodziej schreibt, als blutiger Bürgerkrieg im Gebiet des ehemaligen Zarenreichs, mit Kämpfen im Baltikum und in Preussen, «am seltensten als regulärer Krieg zweier Armeen, in dem es nur um Grenzverschiebungen ging».

    Der Polnisch-Sowjetische Krieg gehörte zu letztgenannter Kategorie – und er wurde, drei Jahre nach der Oktoberrevolution in Russland, zu einer geopolitischen Weichenstellung: «Über der Leiche Weisspolens verläuft die Strasse zum Weltenbrand», schrieb Anfang Juli 1920 der Oberkommandierende der Roten Armee, Michail Tuchatschewski, in einem Appell an die vorrückenden Soldaten. «Auf unseren Bajonetten bringen wir den arbeitenden Massen Glück und Frieden.» Im August würde sich vor Warschau entscheiden, ob die Kommunisten ihre Revolution bis nach Zentraleuropa trugen.

    Die wichtigsten Momente des Polnisch-Sowjetischen Krieges
    Orte innerhalb der heutigen Grenzen
    Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler
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    8. Mai 1920: Polnische Truppen besetzen Kiew und lösen einen sowjetischen Gegenangriff aus, der sie zum Rückzug zwingt.
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    12.–18. August 1920: Die Rote Armee steht unmittelbar vor Warschau, wird aber völlig unerwartet besiegt.
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    21. August 1920: Die 1. Rote Reiterarmee bricht die Belagerung von Lemberg (Lwiw) ab und muss sich bis Ende des Monats aus Polen zurückziehen.
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    18. März 1921: Der Friedensvertrag von Riga wird unterzeichnet und regelt die Grenzziehung, die bis 1939 Bestand hat.
    NZZ / mij.

    Expansion nach Osten und nach Westen
    Wann der Krieg genau begann, ist unter Historikern umstritten, denn er stellte lediglich die Fortsetzung schwelender Konflikte in neuer Intensität dar. Die Grenze in den Steppen war weder durch die Natur noch durch Verträge definiert; Moskau hatte sich Verhandlungen verweigert. Dies wusste auch der polnische Staatschef Jozef Pilsudski: Als eine «Tür, die sich öffnet und schliesst», bezeichnete er im Februar 1919 die Grenzen im Osten. «Es kommt darauf an, wer sie mit Gewalt öffnen kann, und wie weit.»

    Jozef Pilsudski war Polens grosser Stratege, der Warschau vor den Sowjets rettete. Seine riskante Expansionspolitik war aber auch dafür verantwortlich gewesen, dass sein Land erst in die militärisch missliche Lage geriet.
    Jozef Pilsudski war Polens grosser Stratege, der Warschau vor den Sowjets rettete. Seine riskante Expansionspolitik war aber auch dafür verantwortlich gewesen, dass sein Land erst in die militärisch missliche Lage geriet.

    Für beide Kontrahenten war die Kontrolle über die Ukraine das zentrale Kriegsziel. Warschau ging es darum, wieder ein Polen zwischen Schwarzem Meer und Ostsee in den Grenzen von vor der Teilung durch die Grossmächte Ende des 18. Jahrhunderts zu errichten. Umstritten war lediglich, ob dieses Gebilde die Gestalt einer Föderation teilsouveräner, von Polen abhängiger Länder oder eines Nationalstaats haben sollte.

    Das neue Regime in Moskau wollte mindestens einen Teil der verlorenen Westgebiete des Zarenreichs zurückholen, auch im Wissen darum, ohne die Kornkammer Ukraine nicht überlebensfähig zu sein.

    Bis im Frühjahr 1919 sorgte die Präsenz der deutschen Reichswehr in Osteuropa für einen Puffer, der eine Eskalation verhinderte. «Ihr Abzug schuf ein Vakuum, das polnische und sowjetische Truppen spontan füllten», analysiert aber der Historiker Norman Davies in seinem Standardwerk «White Eagle, Red Star». Erste Kampfhandlungen fanden im Baltikum und in Weissrussland statt. Davies sieht sie als den Beginn des Krieges, andere datieren ihn auf den Frühling 1920.

    Die Frage ist nicht nur akademisch, da von ihr abhängt, wer Aggressor und wer Verteidiger war. Und doch war es Pilsudski, der im April 1920 als Präventivschlag eine Invasion der Ukraine anordnete, wobei er sich mit einer der schwächsten Fraktionen der dortigen Nationalbewegung verbündete. Am 7. Mai eroberten die Polen Kiew.

    Patriotische Welle
    Eine Befreiung, wie dies heute staatsnahe polnische Historiker darstellen, war der mit Plünderungen verbundene Einmarsch in die seit Jahren die Hände wechselnde Stadt nicht; die Bevölkerung reagierte gleichgültig. Militärisch und politisch erwies sich Pilsudskis Schritt hingegen als katastrophale Fehlentscheidung. Seine Truppen standen nun ohne gesicherten Nachschub oder stabile Transportwege Hunderte von Kilometern im Osten.

    Polnische Truppen marschierten am 7. Mai 1920 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein.
    Polnische Truppen marschierten am 7. Mai 1920 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein.

    In Moskau löste Polens Invasion «historisch russischer Erde» eine Welle patriotischen Furors aus, welche die Bolschewiki innenpolitisch enorm stärkte. Auch in der kommunistischen Führung verstummten die strategischen Diskussionen darüber, ob die Weltrevolution oder die innere Konsolidierung des Regimes Priorität haben sollte.

    Die Rote Armee setzte gegen 800 000 Mann in Richtung Polen in Bewegung. Unter ihnen befanden sich auch 16 000 Kavalleristen der berüchtigten 1. Roten Reiterarmee (Konarmija). Die Polen mussten sich im Juni vor der Übermacht fluchtartig aus Kiew zurückziehen, im Juli auch aus Weissrussland. Am 7. August war die sowjetische Armee – mit Verlusten von bis zu 40 Prozent – an die Weichsel vorgerückt.

    Die sowjetische Konarmija war die legendärste und berüchtigtste Formation, die im Krieg kämpfte.
    Die sowjetische Konarmija war die legendärste und berüchtigtste Formation, die im Krieg kämpfte.

    Zu den schillerndsten Figuren, die der Polnisch-Sowjetische Krieg hervorgebracht hat, gehört Isaak Babel. Als Front-Korrespondent und Propagandist ritt der 1894 in Odessa geborene Schriftsteller mit der Konarmija in das Konfliktgebiet. Seine gleichnamige Sammlung von Kurzgeschichten und das erst siebzig Jahre später publizierte Tagebuch gehören zu den verstörendsten Kriegszeugnissen des 20. Jahrhunderts.

    Babel, ein Anhänger der Oktoberrevolution, verbrachte mehrere Monate mit den für ihre Brutalität berüchtigten Kosaken unter dem Kommando des späteren Marschalls Semjon Budjonny. Die Erfahrungen, die der assimilierte Jude in Galizien machte, beeindruckten ihn tief: Hier entdeckte er die Kultur des osteuropäischen jüdischen Schtetls, die ihm zwar fremd, aber emotional auch nah war. «Alles riecht nach der alten Zeit, nach Tradition», schrieb Babel in sein Tagebuch.

    Gegenüber den Kosaken verschleierte er seine Herkunft. Zwar verübte die Konarmija keine Pogrome wie die ukrainischen Nationalisten oder die konterrevolutionären «Weissen» unter General Denikin, denen 1919 Zehntausende zum Opfer fielen. Doch auch sie mordeten und vergewaltigten. Babel war bewusst, welch demoralisierenden Einfluss dies auf die Zivilbevölkerung hatte. Über einen jüdischen Schuster in der Kleinstadt Sokal schrieb er, dieser habe auf die Sowjetmacht gewartet, «zu sehen bekommt er Judenfresser».

    Je länger der Krieg dauerte, desto stärker entfremdete sich Babel von dessen Zielen. «Wir sind die Avantgarde, aber wovon?», sinnierte er. «Das ist keine Revolution», notierte er Ende August, «sondern ein Aufstand der wilden Kosakenanarchie.» Tatsächlich hatte sich der Grossteil dieser Kämpfer, die der bäuerlichen Unterschicht entstammten, der Roten Armee nicht aus ideologischer Überzeugung angeschlossen. Stattdessen hofften sie, ihre Position durch die von den Bolschewiki versprochene Landreform zu verbessern. Die Versuche der kommunistischen Indoktrinierung der Reiterarmee scheiterten grösstenteils, wie auch führende Parteivertreter bedauerten.

    1926 publizierte Babel seine Sammlung von Kurzgeschichten, die reale Personen und Ereignisse nur leicht verfremdet wiedergab. Zum Protagonisten machte er eine verfremdete Version seiner selbst – den jüdischen Kosaken Kirill Ljutow, der sich die Anerkennung seiner Kameraden etwa dadurch erkämpft, dass er eine alte Frau misshandelt.

    Die Gewalt, die im Zentrum fast all dieser Geschichten steht, sorgte für grossen Aufruhr in der Armeeführung. So warf Budjonny dem Schriftsteller üble Nachrede und die Verbreitung konterrevolutionärer Lügen vor. Auch wenn Babel zunächst zum Star avancierte, sollten die Vorwürfe später, während der Säuberungen unter Stalin, für ihn ein tödliches Nachspiel haben: Er wurde 1939 verhaftet, gefoltert und am 27. Januar 1940 als angeblicher Spion hingerichtet.

    Der Kampf um Warschau
    Der Fall von Warschau schien bevorzustehen, und Lenin befahl der Armee, danach auf weiter westlich gelegene Hauptstädte zu marschieren. Die Bedrohung durch den «roten Sturm aus dem Osten», wie staatliche Historiker bis heute die Offensive darstellen, veranlasste die Polen dazu, die Reihen zu schliessen.

    Der Revolutionsführer Lenin bei einer Ansprache vor Soldaten auf dem Weg nach Polen. Rechts unmittelbar an der Rednertribüne: Leo Trotzki.
    Der Revolutionsführer Lenin bei einer Ansprache vor Soldaten auf dem Weg nach Polen. Rechts unmittelbar an der Rednertribüne: Leo Trotzki.
    PD
    Der bedrängte Pilsudski liess im Juli eine Regierung der nationalen Einheit unter einem moderaten linken Ministerpräsidenten zu, die eine Bodenreform verabschiedete. Damit schwächte sie die bolschewistische Propaganda, welche die Regierung als Vertreter der Grossgrundbesitzer und Industriellen darstellte. Innert kürzester Zeit meldeten sich 100 000 Freiwillige für die Front.

    Die Verteidiger waren der über grosse Strecken verteilten Roten Armee nun numerisch überlegen. Sie hatten auch deren Geheimcodes geknackt und hörten die Kommunikation ab. Dennoch hing der Ausgang der Schlacht tagelang in der Schwebe. In den ersten Tagen konzentrierte sich der Angriff auf den polnischen Brückenkopf am Ostufer der Weichsel. Pilsudski nannte diese Kämpfe eine «Prügelei»; in den Schützengräben rangen die Soldaten auf engstem Raum, schwere Waffen waren fast nutzlos.

    Trotz hohen Verlusten hielten die polnischen Soldaten die Rote Armee so lange auf, bis polnische Einheiten am 14. August von Norden her eine Zangenbewegung unternahmen, unterstützt von gepanzerten Zügen und Artillerie. Pilsudski komplementierte das Manöver zwei Tage später von Süden her, traf aber nur noch auf schwache Gegenwehr. «Auf der Suche nach Spuren eines Phantom-Feindes» glaubte er zunächst in eine Falle zu geraten. Erst am 18. August wurde ihm klar, dass seine Einheiten 114 000 Rotarmisten von der weiter östlich stehenden Hauptarmee abgeschnitten hatten. Das «Wunder an der Weichsel», das eher eine hochriskante taktische Meisterleistung darstellte, war vollbracht.

    Tuchatschewski musste einen chaotischen Rückzug antreten und entkam in seinem Minsker Hauptquartier nur knapp der Umzingelung. Die Konarmija, die trotz dem Befehl, nach Warschau zu reiten, die Belagerung von Lemberg (Lwiw) fortgesetzt hatte, wurde Ende August eingeschlossen und musste ebenfalls zurückweichen – «in einem Zustand der materiellen und moralischen Erschöpfung», wie Davies schreibt. Am 18. Oktober 1920 trat ein Waffenstillstand in Kraft, der fünf Monate später in den Friedensvertrag von Riga mündete. Der Traum von der Weltrevolution war geplatzt.

    100 000 Freiwillige, unter ihnen auch viele Frauen, beteiligten sich an der Verteidigung Warschaus.
    100 000 Freiwillige, unter ihnen auch viele Frauen, beteiligten sich an der Verteidigung Warschaus.
    Imago
    Die Konflikte der Zukunft
    Polen darf für sich in Anspruch nehmen, westlicher gelegene europäische Länder vor anhaltenden Wirren bewahrt zu haben, auch wenn unwahrscheinlich ist, dass die Rote Armee wirklich die Kraft für einen erfolgreichen militärischen Revolutionsexport gehabt hätte. Polen ging gestärkt aus dem Konflikt, hatte seine Grenzen weit nach Osten ausgedehnt. Ostgalizien und Teile Litauens inklusive der historisch bedeutsamen Städte Lemberg und Wilno (Vilnius) gehörten nun zum 389 000 Quadratkilometer umfassenden Staatsgebiet. Von den Kriegszielen, ein Grosspolen in den Grenzen des 18. Jahrhunderts wiederherzustellen, war es aber weit entfernt; vielmehr entsprachen die Grenzen dem Frontverlauf vom Frühjahr 1920 – bevor Pilsudski seine Offensive auf die Ukraine begonnen hatte.

    Als fatal erwies sich nach Meinung von Wlodzimierz Borodziej aber, dass der junge Staat isoliert blieb: «Die Republik war gescheitert mit ihrem Versuch, ‹Zwischeneuropa› als ein antirussisches Staatensystem zu organisieren.» Die Ukraine fiel grösstenteils an die Sowjetunion, und die Beziehungen zu Litauen blieben wegen des Konflikts um Wilno feindselig. Auch das Verhältnis zur Tschechoslowakei war wegen Grenzstreitigkeiten angespannt. Da Polen im Westen zudem bei der Entente seine Ansprüche auf Oberschlesien, Westpreussen und Posen durchgesetzt hatte, machte es sich auch Deutschland zum Feind.

    So war Polen von zwei übermächtigen Nachbarn im Osten und Westen umgeben, in denen revisionistische Kräfte in den folgenden Jahrzehnten nur darauf warteten, die erlittene Schmach wettzumachen. Die Polen wussten dies und rüsteten auf – mit einem Militärbudget, das bis zu 50 Prozent des Staatshaushaltes ausmachte. Doch als sich Hitler und Stalin 1939 auf die Vernichtung Polens einigten und von beiden Seiten angriffen, war der Staat machtlos. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Polens Ostgrenze auf der sogenannten Curzon-Linie gezogen: Diese hatte die Entente kurzzeitig als Waffenstillstandslinie akzeptiert – als die Sowjets kurz vor Warschau standen.

    Quelle:

    https://www.nzz.ch/international/sowjetisch-polnischer-krieg-1920-das-ende-der-weltrevolution-ld.1570842

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