(UdSSR /Russland) Diesen Artikel habe ich, eher durch Zufall, recherchiert.
Sehr lesenswert und wenn es nicht so real & krass wäre, könnte man meinen, daß wäre ein surrealer Kinofilm.
Ein langer Text, aber der Inhalt ist so bedeutsam, daß alle Atommüll-Befürworter ihn lesen sollten!
Hundert schwimmende Tschernobyls
In der russischen Hafenstadt Murmansk am Polarkreis vergammeln gigantische Mengen Nuklearmüll – in rissigen Betonsilos, in abgewrackten U-Booten, zum Teil unter freiem Himmel.
Der GAU ist nur eine Frage der Zeit.
Von Erich Wiedemann
30.04.2000, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 18/2000
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv.
Wer behauptet, dass er weiß, wie man das Atommüllproblem von Murmansk lösen kann, der gibt zu erkennen, dass er den Umfang des Desasters nicht begriffen hat. Murmansk ist die gefährlichste Stadt der Welt. So platt, so wahr. Und es ist auch keine Besserung in Sicht, die diesen Spitzenplatz gefährden könnte.
Atomare Angelegenheiten sind in Russland streng geheim, deshalb ist die Gefahr nicht genau quantifizierbar. Aber so viel ist verbürgt: Die sowjetische Nordflotte hat hier in 40 Jahren riesige Berge von Atommüll aufgehäuft. Im Umkreis von 50 Kilometern um die sklerotische Stadt 250 Kilometer nördlich des Polarkreises lagern mehr giftige und strahlende Nuklearabfälle als in allen Zwischen- und Endlagerstätten der westlichen Welt zusammen.
Auch ohne die atomare Gefahr ist Murmansk ein Ort von lähmender Tristesse, eine schmutzige, kalte, feindselige Agglomeration aus sechs- bis achtstöckigen Plattenbauten in Sowjetgrau, die sich an einen 30 Kilometer langen Fjord scharen. Die eiskalte Nässe hat sich bis tief in die Hausmauern gefressen. Die durchgerosteten T-Träger und Monier-Eisen haben quadratische Raster in die Wände gezeichnet.
In bolschewistischer Zeit kriegten freiwillige Arbeiterbrigadisten pro Jahr Murmansk ein Bonusjahr für die Rente gutgeschrieben. Die meisten kamen aber nicht freiwillig. Der größte Teil der Hafen- und Industrieanlagen und die Eisenbahn nach Leningrad (heute St. Petersburg) wurden von Zwangsarbeitern und von deutschen Kriegsgefangenen gebaut. Ein Drittel von ihnen starb an Hunger oder Krankheiten.
Mitte der fünfziger Jahre machte sich die Atomwirtschaft mit Macht in Murmansk breit. Die katastrophalen Folgen beginnen sich aber erst jetzt deutlich zu konturieren: Nach den Bodenproben, die Wissenschaftler vom Marinebiologischen Institut gesammelt haben, hat sich zum Beispiel in dem Trabantenort Poljarny am Ausgang des Fjords die Strahlung durch Kobalt-60 in zwei Jahren von 10 auf 80 Becquerel pro Kilogramm Sediment erhöht.
Die Steigerungsrate ist alarmierender als der Messwert. Wenn man sie linear fortschreibt, überschreitet sie nächstes Jahr den Grenzwert und in drei Jahren das 20fache davon.
Haben die Murmansker gar keine Angst?
»Unsere Regierung kennt das Risiko, sie passt schon auf«, sagt der kleine dicke Mann vor der Leuchttafel im Zentrum der Stadt, auf der die aktuellen Strahlungswerte angezeigt werden. Er hält mit der rechten Hand einen prall gefüllten Kartoffelsack und mit der linken einen kleinen Jungen. »Sehen Sie, die Werte sind doch ganz normal.« In Wirklichkeit sieht man gar nichts, weil das Licht der Glühlämpchen auf der Leuchttafel von der milchigen Frühjahrssonne erschlagen wird.
Es würde aber auch nichts ändern, wenn man was sähe. Denn keiner weiß hier, wie viel Millirem sein Körper in welchem Zeitraum verkraften kann.
Der kleine dicke Mann ist etwas verärgert. Vielen Russen gefällt es überhaupt nicht, dass die Ausländer hier herumschnüffeln und ungute Geschichten über Murmansk in die Welt setzen. Vor allem die Norweger mischten sich in alles ein, sagt er. Dabei sei doch kaum was passiert in all den Jahren. Jedenfalls nichts wirklich Ernstes.
Ja, doch vor zwei Jahren gab es da im Kriegshafen ein gewisses »Entflammungsvorkommnis«, wie es verwaltungsamtlich hieß. Hinterher wurden Jodtabletten in der Stadt verteilt, und dann sprach niemand mehr darüber.
Und dann war da noch der psychische Störfall, der im September 1998 neun Tote forderte. Der 19-jährige Matrose Alexander Kusminych schoss in einem Akula-Jagd-U-Boot acht Kameraden mit einer Maschinenpistole nieder, verkroch sich dann im Torpedoraum und drohte, das Schiff in die Luft zu sprengen. Er starb im Kugelhagel einer Speznaz-Einheit, die eigens für den Einsatz gegen durchgeknallte Matrosen bereitsteht.
Mord im Stress ist kein seltenes Delikt bei den russischen Streitkräften, besonders bei der U-Boot-Waffe. Die Enge, die entwürdigende Barras-Disziplin, die ewige Kartoffelmatschverpflegung bringen auf die Dauer den stärksten Seemann seelisch in Schlagseite. Und dann diese ständige Angst, dass irgendwo im Bauch des rostigen Sauriers ein Ventil klemmt oder eine Muffe undicht wird. Und dass dann das entfesselte Unheil durchs Boot rast und man aufwacht und gelben Schaum spuckt. Wie 1961 Matrosen auf der »K-19« nach einem Unfall unterm Polareis.
Die Murmansker Zivilbevölkerung erfuhr von solchen Vorfällen aber selten etwas. Dass von den 470 000 Einwohnern, die vor zehn Jahren hier lebten, inzwischen 100 000 weggezogen sind, das hat eher mit der miserablen Wirtschaftslage als mit der Angst vor den Folgen der maroden Atomwirtschaft zu tun.
Die Menschen wüssten nicht, welche Gefahren in den Atommülllagern stecken, die die Stadt umgeben, sagen die Leute von der Umweltstiftung Bellona. Die Brennelemente in den Zwischenlagern sind dicht gepackt und nur durch Betonwände voneinander getrennt, die zum Teil breite Risse haben. Und: Man sehe ganz konkret »das substanzielle Risiko einer unkontrollierbaren Kettenreaktion, so wie es in Tschernobyl geschehen ist«.
Dabei wird es gegebenenfalls nicht bleiben. Eine Atomkatastrophe in Murmansk, so heißt es in einem Bellona-Gutachten, würde die ganze nördliche Erdhalbkugel verseuchen: »Allein wegen der riesigen Mengen an nuklearem Brennstoff, der dort lagert, wird eine Kernschmelze in der russischen Arktis viel größere Auswirkungen haben als alles, was wir bisher erlebt haben.«
Die Bellona-Aktivisten werden hier respektiert. Sie blockieren keine Straßen und klettern nicht mit Spruchbändern auf Schornsteine. Sie kämpfen mit Geigerzähler und Sachverstand gegen die Verdrängungsbeflissenheit der Administration.
Andrej Solotkow, der Chef von Bellona Murmansk, ist ein Vierteljahrhundert lang als Strahlenschutz-Ingenieur auf den reaktorgetriebenen Eisbrechern »Lenin« und »Arktika« gefahren, die im Eismeer den Seeweg in die sibirischen Häfen bis zur Bering-Straße freihalten und die ihren Heimathafen hier in Murmansk haben. Er weiß, wovon er redet. Und die Provinzregierung weiß, dass er es weiß.
Solotkow hat miterlebt, wie in der Kara- und in der Barents-See zwischen Nowaja Semlja und der Kola-Halbinsel Behälter mit hoch radioaktivem Material und ausgemusterte Reaktorblöcke einfach ins Meer gekippt wurden. Bei so genannten Verklappungsfahrten gingen jedes Mal mehrere tausend Tonnen verseuchtes Material über Bord. »Es war ein Verbrechen«, sagt er. »Aber man konnte nichts machen, wer aufmuckte, war reif für den Gulag.«
Auch heute ist Protest nicht ungefährlich. Ex-Kapitän Alexander Nikitin, vormals Chefingenieur auf dem Atom-U-Boot »K-387«, wurde 1996 verhaftet und ein Jahr lang festgehalten, weil er gemeinsam mit Bellona-Autoren einen Bericht über die atomare Gefahr auf der Kola-Halbinsel verfasst hatte. Ein Gericht in St. Petersburg sprach ihn erst im Dezember von dem Vorwurf des Landesverrats und der Spionage frei.
Nikitin, Solotkow und ihre Co-Autoren hatten unter anderem enthüllt, dass die Kriegsmarine von 1959 bis 1971 mindestens 17 000 Container mit nuklearem Abfall in arktischen Gewässern versenkt hat. Vor der norwegischen Bäreninsel liegt in 1685 Meter Tiefe die »Komsomolez« mit einem Reaktor und zwei Atomsprengköpfen auf Grund.
Alles halb so schlimm, meint Wadim Bitkow vom Moskauer Atomministerium. Das bisschen atomaren Schweinkram könne die Barents-See ganz gut verkraften, das sei »keine Gefahr für die Menschheit«. Schon weil die Strömung den Dreck ja nach Norden treibe, in Richtung auf den Nordpol, wo er niemandem schaden könne, außer ein paar Eisbären und Schneehasen.
Die Regierung in Oslo hört das gern. Die Barents-See sei zwar gefährdet, aber prinzipiell sei sie ein sauberes Meer, weniger kontaminiert jedenfalls als die Nordsee. Man kann diese Solidarität verstehen, denn vom guten Ruf der Barents-See hängt die norwegische Fischereiwirtschaft ab, die hier einen beträchtlichen Teil ihrer jährlichen Fangmenge aus dem Wasser holt.
Dass die Osloer das Problem ernster nehmen, als sie zugeben, zeigen schon die vielen Subventionsmillionen, die sie in den letzten Jahren in das Sicherheitsbudget der Murmansker Atomwirtschaft gesteckt haben. Auch Bellona lebt vorwiegend von Zuschüssen aus Norwegen.
Die Atomeisbrecher der halbstaatlichen Murmansk Shipping Company liegen etwas außerhalb der Hafenanlagen. Man kann sie im Gegensatz zu den Militärschiffen ganz aus der Nähe betrachten. Sieben russische Bullen, jeder mit 75 000 PS im Bauch. Der Stolz von Murmansk. Auf der ganzen Welt gibt es nichts Vergleichbares.
Die Schiffe sind bis zu 25 Jahre alt, aber noch ganz rüstig. Nur ihre Reaktoren sind ausgelutscht bis zur Erschöpfung. Sie haben die erlaubte Betriebsdauer alle um das Zwei- bis Dreifache überschritten.
Nach der Start-II-Abrüstungsvereinbarung von 1993 und 1997 müssen bis zum Jahr 2007 knapp zwei Drittel der ursprünglich rund 200 russischen Atom-Unterseeboote abgewrackt werden. Obwohl die Amerikaner Werkzeug, Kräne und Schweißgeräte zur Verfügung gestellt haben, schafft die Nerpa-Werft am Murmansk-Fjord statt der vereinbarten zehn Schiffe aber nur vier bis fünf im Jahr.
Die Abwracker schneiden den Rumpf auseinander, entfernen die Abschussanlage und schweißen den Rumpf wieder zusammen. Die Röhre mit den Antriebsaggregaten kann verrotten. Über Atommeiler und Reaktorbrennstoff steht nichts im Start-Vertrag.
Rings um Murmansk und auf der Flottenbasis Sewerodwinsk bei Archangelsk dümpeln fast hundert U-Boote der ersten Generation (November-, Echo-, Hotel-Klasse) und der zweiten Generation (Victor-, Charlie-, Yankee-, Delta-Klasse) im Wasser. Die weitaus meisten können nicht mehr auslaufen, weil sie nicht mehr betriebssicher sind. Die Abschusseinrichtungen sind größtenteils aber noch intakt.
An Sanierung war bisher nicht zu denken. Das Verteidigungsministerium hat den Etat für die Atommülllagerung auf die Hälfte gekürzt. Die Admiralität kann nicht einmal mehr die Stromrechnung pünktlich bezahlen. 1995 musste ein bewaffnetes Kommando die Techniker im Atomkraftwerk von Kolenergo zwingen, den Strom für die Marinebasis Gadschewo wieder einzuschalten, weil mehrere Kühlkreisläufe auszufallen drohten.
Um Geld zu verdienen, schießt die Nordflotte von Booten der Yankee-Klasse aus zivile West-Satelliten in den Orbit. Vorletzten Winter hat ein Atom-U-Boot in seinem Raketenschacht eine Ladung Kartoffeln nach Sibirien gebracht. Vergangenes Jahr wurden auch Unterseekreuzfahrten zum Nordpol für 25 000 US-Dollar pro Person angeboten. Doch die Nachfrage hielt sich sehr in Grenzen.
Schlechte Geschäfte auch für die Schrottspechte, die am Ufer des Fjords Wracks auseinander schweißen. Radioaktiv verseuchtes Buntmetall ist am Ort nur schwer zu verkaufen. Und die Norweger lassen nichts davon über die Grenze.
Ein paar von den alten Pötten sind so porös, dass sie ganz schief im Wasser liegen. Kompressoren pumpen ständig Pressluft ins Innere, damit sie nicht absaufen.
Mit einem Fernglas kann man vom Ufer aus manchmal die Luftblasen sehen, die um die Schiffsrümpfe perlen. Man weiß nicht genau, was passiert, wenn eines von den Booten auf Grund geht. Man weiß aber: Wasser kann in Brennelementen eine Kettenreaktion in Gang setzen. Hier liegen hundert schwimmende Tschernobyls.
Die Admiräle und Generäle, die die präapokalyptischen Zustände zu verantworten haben, sind ratlos. Sie haben auf der Militärakademie gelernt, wie man die Welt oder Teile davon zerstört. Aber wie man die Umwelt, die sie mit ihren Untergangsmaschinen versaut haben, wieder sauber macht, das stand nicht im Lehrplan.
Früher ging zwei-, dreimal im Jahr ein Bahntransport mit Brennelementen zur Wiederaufarbeitungsanlage Majak im Ural. Das ist schon lange vorbei. Die über 2500 Kilometer lange Reise von Murmansk nach Majak ist unbezahlbar geworden. Deshalb werden die Brennstäbe jetzt überwiegend in den abgewrackten U-Booten und in Betonsilos zwischengelagert, die fast über die ganze Kola-Halbinsel verteilt sind. Die ältesten sind 35 Jahre alt.
Auf dem Stützpunkt Andrejewa im Litsa-Fjord vergammeln im Freien über 20 000 verbrauchte Brennelemente in Betonbehältern, die langsam zerfallen. Jedes Brennelement enthält 50 Kilogramm Uran. Mehrere Betonbehälter stecken in Fässern, von denen einige nicht mal einen Deckel haben.
Dazu kommen 2000 Kubikmeter flüssiger und mindestens 6000 Kubikmeter fester Atomabfall. Im Lager »Radon«, 30 Kilometer westlich von Murmansk, sind 400 Kubikmeter radioaktiver Festmüll und ein paar hundert Kanister mit strahlender Jauche aus den Atomeisbrechern einfach am Strand eingebuddelt worden.
Die gefährlichste Zeitbombe in Murmansk ist der Frachter »Lepse«. Er ist zwei Kilometer vom Stadtzentrum im zivilen Teil des Hafens vertäut und randvoll mit einbetonierten Brennelementen beladen. Das arktische Wechselklima mit Temperatursprüngen bis zu 30 Grad in sechs Stunden hat den Beton brüchig gemacht. Die »Lepse« ist 64 Jahre alt, sie wird ebenfalls mit Pressluft über Wasser gehalten.
Der Mechanismus der Zwangsläufigkeiten hat zu ticken begonnen. Die Nordflotte produziert trotz ihrer stark eingeschränkten Kapazitäten noch immer 2500 Kubikmeter flüssigen und 1000 Kubikmeter festen radioaktiven Abfall im Jahr. Weil er nicht abtransportiert werden kann, wird der strahlende Müllberg immer größer.
Nach Schätzungen von Bellona wären 200 bis 300 Güterzüge erforderlich, um den ganzen hoch radioaktiven Müll aus Murmansk und Archangelsk nach Majak zu bringen. Die eine Milliarde Mark Transportkosten würden Sponsoren in Skandinavien auch gern aufbringen. Aber vieles ist so verrottet, dass das gefährliche Material auseinander brechen könnte, wenn man es bewegt. Und außerdem ist Majak hoffnungslos ausgebucht.
Bloß keine Panikmache, meint Wladimir Putin, der neue Oberkommandierende der Streitkräfte. Am 6. April, elf Tage nach seiner Wahl, kam er zu Besuch nach Murmansk, um zu erklären, mit der Vernachlässigung der Marine werde es nun bald ein Ende haben.
Statt im Gästehaus der Regierung übernachtete Putin demonstrativ an Bord des Atom-U-Boots »Karelia«, und zwar in einer Koje gleich bei den Raketensilos. Vorm Schlafengehen trank er vor laufenden Fernsehkameras noch ein Glas Salzwasser aus der Barents-See und rief schneidig: »Nasdrowje!« Wohl bekomm“s.

